Rainer Maria Wehners "Sacra Conversazione"
Peter Anselm Riedl

Rainer Maria Wehners "Sacra Conversazione" ist ein sonderbar dualistisches Werk. Da ist auf der einen Seite das Technisch-Präzise, das aus dem konstruktiven Charakter der Anordnung, der Dominanz rechtwinkeliger Strukturen, den verwendeten Materialien und Techniken und gewiß auch der von den Röntgenbildern ausgehenden Wissenschaftlichkeitssuggestion resultiert. Und da ist auf der anderen Seite das Änigmatische, das sich der Überformung des Technischen durch die schon vom Titel angekündigte Feierlichkeit der Darbietung und die im gegebenen Zusammenhang zunächst unerklärliche Funktion der medizinischen Photographien verdankt. Nimmt man Wehners Kennzeichnung des Ganzen als "triptychonaler Altar" hinzu, wächst dem Rätselhaften ein Anspruch des Kultischen zu, der die Deutung vollends schwierig macht.

Stützender Teil der im Jahre 2000 während eines längeren Aufenthaltes in New York entstandenen "Sacra Conversazione" ist ein staffelartiges Gestell aus Vierkantstahl, das einen querrechteckigen Rahmen trägt; seitlich sind dem Gestell zwei kleinere flügelartige Quadratrahmen angegliedert, und zwar so, daß sich der eine in den Winkel zwischen linkem Stützenpaar und Unterkante des Hauptrahmens schmiegt, während beim rechten Pendant eine kleine Rahmenzelle für Distanz zum Hauptrahmen sorgt. Links findet diese Zelle in einem größeren, zur Mittelachse hin ausladenden Geviert seine Entsprechung, das, wie alle anderen Rahmen auch, doppelschichtig angelegt ist. In die beiden kleinen Zellen sind vorn und hinten gelb getönte Acrylglasplatten eingelassen. Das Hauptfeld hingegen ist mit der digital aufbereiteten und stark vergrößerten Röntgenphotographie eines frontal gesehenen kindlichen Brustkorbs besetzt. Etwa Lebensgröße haben die zwei, jeweils die Kopf-Schulter-Partie einer erwachsenen Person zeigenden Röntgenaufnahmen in den flankierenden Quadratrahmen. Hinterfangen wird das Ensemble von sechs vertikal ausgerichteten Leuchstoffröhrenpaaren. Den beiden längsten, den Mittelbereich akzentuierenden Paaren sind zwei kürzere an die Seite gegeben; diesen antwortet ihrerseits jeweils ein paar hinter den quadratischen Flügeln. Das kühlweiße Licht der über ein offen geführtes Kabel gespeisten Röhren läßt die Röntgenbilder wie vor dem Leuchtschirm einer Klinik zur Evidenz kommen und stimmt das an sich schon zurückhaltende Gelb zum Inaktiven hin um.

Die unübersehbare und dazu vom Titel gestützte Altaranmutung macht die Frage nach dem Sinn des Ensembles dringlich. Allerdings muß dem Versuch, diese Frage zu beantworten, ein genauerer Blick auf die formale Verfassung der "Sacra Conversazione" vorausgehen. Kaum einer Erläuterung bedürfen die geometrisch-konstruktiven Züge. Der Aufriß weckt in seiner Strenge, aber auch darin, wie er sich starrer Symmetrie entzieht, geradezu Erinnerungen an Mondrian, die Aufbereitung des sich in nackter Metallfarbe zeigenden Stahlgestells wirkt technisch knapp, doch nicht auf eine Perfektion bedacht, die das handwerkliche leugnen würde. Die Batterie gleichgerichteter weißtoniger Leuchtstoffröhren läßt an frühe Arbeiten Dan Flavins denken und mithin an eine Affinität zur minimalistischen Spielart der Lichtkunst. In andere Richtung, nämlich die der Körperkunst und - so kann man weitgehend mutmaßen - der Sicherung individualgeschichtlicher Spuren, weisen die Röntgenauf-nahmen. Insgesamt hat das Werk, indem es Elemente des Technisch-Objekthaften, des Ikonischen und des Ostentativen vereint, den Charakter einer zwar unterschiedlichen Trends verpflichteten, im Ergebnis aber überaus einprägsamen multimedialen Installation.

Postmoderne Neigungen klingen im historisierenden und zugleich mit Ironie aufgeladenen Titel an. "Sacra Conversazione": so heißt in der italienischen Kunstgeschichte ein Typus des Altarretabels, dessen Anfänge in das vierzehnte Jahrhundert zurückreichen, der seine eigentliche Blüte in der Renaissance erlebt und der bis ins achtzehnte Jahrhundert nachwirkt. Werke von Meistern wie Domenico Veneziano, Giovanni Bellini, Andrea Mantegna, Piero della Francesca, Pietro Perugino, Raffael, Andrea del Sarto und Tizian kommen einem vor allem in den Sinn - Kompositionen, deren formale und koloristisch Ausgewogenheit ihre Wurzeln im Inhaltlichen hat. Thema ist stets die Versammlung von Heiligen um die in Zentrum thronende Maria mit dem Kind, doch Konversation vollzieht sich in dieser Runde weit seltener auf der Ebene bewegter Mitteilsamkeit als auf der einer gelassenen Kommunikation. An einem idealen Ort versetzt und irdischer Zeitlichkeit entrückt, bezeugen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der klassischen Heiligenversammlung ein geistiges Einverständnis, das über jede Anfechtung erhaben ist.

Wenn Rainer Maria Wehner die traditionsgesättigte Bezeichnung "Sacra Conversazione" für sein Werk in Anspruch nimmt und zudem von einem "triptychonalen Altar" redet, dann sichtlich nicht, um von Übereinkunft und Glaubensgewißheit Kunde zu geben. Daß dem Ganzen die für einen Altar wesentliche Mensa fehlt, ist dabei weniger erheblich, denn auch historischen Altaraufsätzen pflegt man im Museum ohne den sie ursprünglich tragenden - und im kirchlichen Kontext selbstverständlich bedingenden - Unterbau zu begegnen. Wichtiger ist, daß Wehners Arbeit strukturell auf Uneinigkeit und Unvereinbarkeit verweist. Schon das Proportionsgefälle zwischen dem Röntgenbild des kindlichen Brustkorbs und den Aufnahmen der beiden Erwachsenenbüsten zeigt Spannung an statt Harmonie. Man mag allerdings an die "bedeutungsperspektivischen" Größensprünge denken, wie man sie von mittelalterlichen Darstellungen her kennt und wie es sie auch in der Vorgeschichte de "Sacra Conversazione" gibt, dort nämlich, wo Maria und das Jesuskind gegenüber den assistierenden Heiligen absichtsvoll überproportioniert sind. Nun bietet das mittlere Bild des Wehnerschen Ensembles nicht eine integrale Figur, sondern einen monströs vergrößerten Körperausschnitt, der die beiden anderen Körperausschnitte - die weiter unten und ihrerseits rangunterscheidend angeordnet sind - marginalisiert. Gesprächsfähig aufeinander bezogen sind nur die beiden unteren Köpfe: Ihr Diskurs bleibt indessen stumm, ihr Erleuchtungsgrad ist, sofern man die beiden gelbverglasten Kästen in dieser Hinsicht als symbolische Fingerzeige verstehen darf, unterschiedlich, ihre Rolle steht auf jeden Fall hinter der des zentralen großen Brustbildes, das bezeichnenderweise kopflos ist, zurück. Wenn es für die beiden Personen eine Konvergenzzone der Aufmerksamkeit gibt, dann muß sie etwas mit dem zu tun haben, was das Hauptbild mit bannender Entschiedenheit vor Augen führt.

Zu den Informationen, die sich aus dem Gesamtaufbau herauslesen und durch Aufschlüsselung bestimmter figurativer Bestandteile ergänzen lassen, kommt die nur dem geschulten Mediziner mögliche Beobachtung, daß das zentrale Bild einen extremen Gefährdungszustand des durchleuchteten Kleinkinds dokumentiert. Wo an diesem Punkt Erkenntnis ansonsten in Spekulation münden müßte, schaltet sich auf überraschenden Weise der Kommentar des Künstlers ein: Ein Fachmann wird erkennen, daß es sich um die Aufnahme einer Lungenentzündung bei dem Kinde handelt. In der Tat war in dieser Zeit, in der die Menschen um das nackte Überleben zu kämpfen hatten, - Wehner bezieht sich auf das Jahr 1950 - die gängige Form von Geburtenkontrolle, das Kinderbettchen einfach an einem kalten Herbstabend samt Inhalt auf den Balkon zu stellen, und eine Lungenentzündung erledigte den Rest. Nun Sie werden es bereits erahnt haben, fügt Wehner in seinem Brief hinzu, es handelt sich hierbei um meine eigene Geschichte, die hier ihre Aufarbeitung erfahren hat.

Auf Wehners Eröffnung kann man nur mit Beklemmung, wenn nicht mit Schrecken, reagieren. In einem Selbstbefreiungsakt wird ein Stück der Autobiographie, in dem es immerhin um Leben oder Tod geht, fremden Blicken preisgegeben, und der Part der Eltern - denn nur sie können mit den beiden Köpfen gemeint sein - wird als ein dunkler, potentiell zerstörerischer enthüllt. Der tatsächliche Verlauf der Geschichte beweist, daß, aus welchen Gründen auch immer, das Leben die Oberhand behalten hat, aber was an Erinnerung bleibt, genügt, um sich in der Phantasie zu einem Bild zu verdichten, das in Wahrheit das bittere Gegenbild einer Sacra Conversazione ist. man müßte eine derartige Verletzung von Verschwiegenheitsgewohnheiten als ungeheuerlich empfinden, gelänge es dem Künstler nicht, sein Outing in eine Form zu gießen, die das mental kaum Bewältigbare ästhetisch tragfähig macht. Wehner drängt das Makabre nicht etwa ins Revier der Beiläufigkeit ab, vielmehr verschafft er ihm eine formal markante und dabei eigentümlich kühle Bühne, auf der es seine halb beredte, halb rätselhafte Wirkung entfalten kann. Zu unterstellen, Wehner habe sich mit der "Sacra Conversazione" so etwas wie einen eigenen Altar setzen wollen, hieße die tiefe Ironie verkennen, die hinter dem Ganzen steht. Die kultische Ausstrahlung des Werkes, die sehr viel mit der einem Triptychon eigenen Ausdrucksqualität zu tun hat - man denke an die Formel vom "Triptychon als Pathosformel" -, ist insofern mehr eine Tarnung denn ein Mittel parareligiöser Überredung.

So groß die Distanz zwischen den frühen Schriftverfremdungen Wehners und einer neuen Arbeit wie "Sacra Conversazione" erscheinen mag: Hier wie dort erklingt eine Dialektik von Verhüllen und Enthüllen, die zugleich eine Dialektik von freier künstlerischer Erfindungslust und Vertrauen in die Kraft des Semantischen ist. Das ästhetisch Raffinierte ist bis heute eine wichtige Komponente der Kunst Wehners geblieben, aber der Anspruch an das Inhaltliche ist mit den Jahren ständig gewachsen und durch die Beschäftigung mit dem Berliner Holocaust-Projekt und der damit verbundenen Menetekel-Serie vollends bekräftigt worden. Erweitert haben sich auch der Radius der technischen Möglichkeiten und die Bereitschaft, neue Materialien und Präsentationsverfahren zu erproben. Eine Wendung ist in der Nutzung von Transparenzwirkungen zu beobachten: Waren es zunächst Bleistifteintragungen auf Transparentpapier oder durchsichtiger Folie - etwa bei den in raumhaltigen stählernen Rahmen aufgehängten Zeichnungen der Menetekel-Serie von 1996 - und im nächsten Schritt Fräsungen und Szintigramme in Acrylglas - zum Beispiel bei "...und sieh, an weißer Wand..." von 1997 -, so wurde die Aufmerksamkeit von da an zunehmend auf Röntgenphotographien gelenkt. Zu Aufnahmen, die Wehner von seinem eigenen Körper machen ließ, kam ausgesuchtes Fremdmaterial: Jedoch finden auch Knochenszintigramme, Enzephalogramme und Röntgenbilder von anderen Menschen Verwendung, teilt er in einem Brief mit; Begonnen hat diese Tendenz anläßlich meiner Ausstellung im Kunstraum Berlin (1997). Dort habe ich eine projizierte Schrift mit zwei Röntgenaufnahmen meines Gedärms kombiniert, um eine Situation zu schaffen, die an Prophezeiungen erinnert, die aus dem Gedärm geschlachteter Opfertiere gelesen wurden. Die Bilder erweisen sich von ungeheurer Suggestivkraft und Tiefe, die selbst Mediziner verblüffte. Bilder von Knochenszintigrammen wiesen eine subtile Durchzeichnung aus, als handele es sich um Kreidezeichnungen.

Es ist die Spannung zwischen ästhetischem Reiz und inhaltlicher Signifikanz, die auch das Besondere der "Sacra Conversazione" ausmacht. Der hochsubjektive Bezug ist durch die Verwendung der wohl eher zufällig erhaltenen Röntgenaufnahme aus der eigenen frühkindlichen Krankheitsgeschichte gegeben. Daß diesem Bild zwei anonyme Röntgenphotographien an die Seite gestellt sind, kann in sofern nicht als Verstoß gegen die inhaltliche Schlüssigkeit empfunden werden, als auch die wahre Identität der Hauptdarstellung visuell unergründbar bleibt. Andererseits ist, selbst wenn man die von Wehner verbal aufgedeckten autobiographischen Bewandtniszusammenhänge nicht kennt, die existentielle Wirkungsmacht der Installation groß genug, um dem Kunstreichen der Darbietung Schranken zu setzen.